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Es ist eine Weile her, dass ich die Website aktualisiert habe, was aber nichts mit Desinteresse zu tun hat. Die Problematik für die an Aphasie leidenden Menschen und den Aphasie-Mitbetroffenen ist über die Jahre gleichgeblieben. Dieses Dauer-Problem wird vermutlich immer bestehen bleiben. Einige Erlebnisse im Jahr 2020 bestätigen diese Annahme, wie drei Beispiele zeigen.
Vorab: Sicherlich haben sowohl die Schlaganfall-Akut-Medizin, die Versorgung mit modernen Medikamenten wie auch die Therapieansätze Fortschritte gemacht. Vieles ist heute möglich, was vor zehn / zwanzig Jahren noch nicht möglich war und hat einigen Menschen schwerere Behinderungen erspart. Oft bleiben leider trotz aller moderner Medizin lebensverändernde Beeinträchtigungen zurück und werfen die Lebensplanungen nicht nur der Betroffenen über den Haufen. Das gilt auch für das höhere Alter. Langzeitfolgen haben im Alter sicher eine geringere Dauer als bei jüngeren Menschen, die noch ein halbes Leben vor sich haben. Dennoch ist ein Schlaganfall mit irreversiblen Folgen in jedem Alter ein gravierender Schicksalsschlag mit folgenreichen Konsequenzen für alle Beteiligten, also auch für die Angehörigen. Spezielle Probleme ergeben sich bei Sprachdefiziten.
Seit Corona unser aller Leben beeinflusst, stoßen mir die Hinweise auf das Alter der Corona-Toten auf. Vor allem stören mich die Erwähnungen, dass die meisten Toten schließlich Vorerkrankungen gehabt hätten. Also ist deren Tod nichts Aufregendes, halt ein bisschen eher als ohne Covit-19-Infektion. Ich empfinde dies als eine Geringschätzung und Verachtung des Alters bzw. der älteren Menschen überhaupt. Falls dies dem Zeitgeist geschuldet ist, so wird bewusst ausgeklammert, dass unsere allgemeine Lebenserwartung so hoch wie noch nie ist. Eine hoffnungsvolle Tatsache für die Jüngeren, deren Aussicht auf ein hohes Alter sehr wahrscheinlich ist. Die Aktivitäten der Alten und oft deren soziales Engagement - also der gesellschaftliche Nutzen der Alten - wird zu wenig wahrgenommen und gewürdigt. Dies möchte ich nur kurz erwähnen, die Thematik hier nicht vertiefen.
Dennoch hat die Bagatellisierung der älteren Corona-Toten mich in meiner/unserer ohnehin langen »Lockdown«-Aphasie-Welt aufgeschreckt. Eine Infektion mit Covit-19 würde mein Mann wohl nicht überleben und ich wahrscheinlich auch nicht. Wir haben beide sogenannte Vorerkrankungen, also könnten wir dann ggf weg!? Oder sortiert uns eine Triage aus? Nein das wird sicher nicht so sein, davon bin ich überzeugt!
Wir hatten Erlebnisse, die mir mal wieder klar gemacht haben, dass Aphasie nach wie vor so gut wie unbekannt ist. Mich ärgert diese Dauer-Tatsache immer wieder, obwohl ich sie seit über drei Jahrzehnten kenne. Aphasie ist in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ein winziger Punkt. Die Anzahl der Aphasie-Betroffenen scheint zu gering zu sein, als dass es lohnt, genauer hinzusehen, eine Lobby haben Aphasiker & Co. sowieso nicht. Was ein Verlust der automatisierten Sprache für die Betroffenen wie für die Angehörigen bedeutet, ist von außen schwer zu verstehen, und was nicht verstanden wird, ist schnell unwichtig.
Diese Erkenntnis war vor Jahren meine Motivation, u.a. den Roman und das Sachbuch zu schreiben.
Beispiel 1:
Am 05.06.20 sah ich zufällig einen Beitrag im Mittagsmagazin zur Lebenssituation der ca. 80.000 Gehörlosen. Ein Interview mit Herrn Dusel, dem »Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen«, wurde gesendet. Spontan schickte ich ihm eine E-Mail mit dem Inhalt, ihn auf eine andere kommunikationsgestörte Lebenssituation, die Aphasie, aufmerksam zu machen und wies darauf hin, dass u.a. ein Hinschauen der Behinderten-Politik auf die Aphasie-Betroffenen wichtig sei. Einen Monat später erhielt ich ein Schreiben eines Sachbearbeiters, das anhand von Textbausteinen die Art der Arbeit des Behinderten-Beauftragten darlegt und auch erklärt, dass Rechtsberatung und Einflussnahme auf Behörden im Einzelfall nicht zu den Aufgaben des Behinderten-Beauftragten gehören. Das standardisierte Schreiben hatte keinerlei Bezug zu meinem Schreiben. Lediglich ein einziges Mal kam der Begriff Aphasie vor, als mir am Schluss stereotyp für mein Engagement gedankt wurde.
Mein Schreiben an den Behinderten-Beauftragten schickte ich zeitgleich auch dem Mittagsmagazin mit der Bitte, sich einmal der Aphasie-Problematik anzunehmen. Keine Reaktion.
Beispiel 2:
Mein Mann musste im Sommer 2020 für eine Untersuchung stationär ins Krankenhaus. Der überweisende Arzt hatte wegen der Corona-Situation darauf hingewiesen, dass seine schwere Aphasie meine Begleitung notwendig macht.
Das formale Prozedere für die Aufnahme sowie der Corona-Test war zwei Tage vor der KH-Aufnahme angesetzt. An der Rezeption des KH lag dann zwar der Name meines Mannes vor, meiner aber nicht. Nach heftigen Wortwechseln blieb es dabei, dass ich ihn nicht begleiten durfte. Mein Mann musste allein gehen, verlief sich natürlich und machte unvollständige Angaben zu seiner Person etc. Er brauchte über eine Stunde und war vor Aufregung zittrig. Von der aufnehmenden Station bekam ich zu hören, dass meine Begleitung »medizinisch nicht nötig« sei. Ich setzte durch, dass ich am Aufnahmetag bei dem Anamnese-Gespräch anwesend sein kann und mir das weitere Vorgehen mitgeteilt wird, damit ich es meinem Mann durch Zeichnung und Schlagwörtern erklären kann.
Nach dem Eingriff am Folgetag wurde mir wiederum der Eintritt ins KH verweigert und erst nach etlichen Telefonaten gewährt. Auf der Station sagte man mir, dass das Ergebnis meinem Mann bereits mitgeteilt worden sei. Mein Einwand, dass er mit Sicherheit nichts verstanden habe und mir auch nichts mitteilen könne, fruchtete nicht. Man war der Meinung, mein Mann habe alles verstanden, er habe ja genickt. Die Entlassung war für den nächsten Tag verabredet und mir die Uhrzeit mitgeteilt, wann ich ihn unten am Eingang in Empfang nehmen kann. Als ich gerade von Zuhause losfahren wollte, rief mein Mann mich aufgeregt an, wiederholte mehrmals Stopp, nicht, weiß nicht. Scheiße…. Nach mehreren Versuchen bekam ich vom Stationsarzt gesagt, dass man meinem Mann den Grund für die stationäre Verlängerung erklärt habe. Medizinisch sei meine Anwesenheit nicht notwendig, es würde ja auch alles im Entlassungsbericht zu lesen sein. Ich habe wortlos aufgelegt, da Erklärungen so sinnlos waren wie die drei DIN A 4 Blätter (verteilt auf Nachttisch, Schwesternzimmer und Krankenakte), auf denen ich mit großen Buschstaben darum gebeten hatte, dass alle Gespräche mit mir zu führen seien, ggf. über Handy. Eine Krankenschwester meinte, dass Aphasie ja nur eine Wortfindungsstörung sei. Ich war auf der Station ein Störfaktor.
In den vielen Jahren meines/unsers Aphasie-Lebens habe ich ähnliche Reaktionen erlebt, aber nicht so komprimiert, nicht so abweisend und verständnislos. Mein Mann hat deutlich gemacht, dass er nie, nie wieder in ein KH will. Hoffentlich wird das nicht doch mal notwendig. Dass es anders geht, haben wir 2019 erlebt, als mein Mann nach einer schweren Darm-Not-OP im Krankenhaus war. Da gab es zwar Corona noch nicht, auch hatte ich bezüglich Aphasie viel erklären müssen, aber man hörte zu und war einfühlsam.
Beispiel 3:
Das folgende Beispiel wiederholt sich immer mal wieder, teils wortgenau, wenn ich situationsbedingt fremden Menschen erklären muss, dass mein Mann einen erheblichen Teil seines Sprachvermögens durch einen Schlaganfall verloren hat und nun Aphasiker ist. Mein aktuelles Gegenüber (Physiotherapeutin) meinte, es sei ja nur die Sprache, da könne ich doch froh sein, schlimmer wären Lähmungen. Obwohl solche Äußerungen ein alter Hut sind, irritieren sie mich nach wie vor. Es scheint eine ungeschriebene absurde »Rating-Liste der Behinderungen« zu geben. Sprache wird als nebensächlich bewertet. Welch unausrottbarer Irrtum! Angeblich sind wir im Zeitalter der Kommunikation, und die bedarf überwiegend der Sprache!
Januar 2021
Erika Pullwitt, Jahrgang 1942
Mein Lebens-Hintergrund: Die Globale Aphasie meines Mannes bestimmt seit 1989 unser Leben. Mein Mann war damals 47 Jahre alt und ich 46. Mit unserem alten, dem »normalen« Leben hat unsere Aphasie-Welt kaum mehr etwas zu tun, wir haben unser Leben der Aphasie angepasst. Wie wir es bis jetzt geschafft haben? Schwer zu beantworten. Es war oft mehr als mühsam und manchmal auch sehr, sehr grenzwertig, vor allem in den ersten zehn Jahren. Nun blicken wir auf die vielen Jahre zurück und sind im Großen und Ganzen zufrieden mit dem was wir haben. Noch vor gut zwanzig Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, ein solch defizitäres Leben dauerhaft zu leben und es vor allem akzeptieren zu können. Hilfen, diesen Status zu erreichen, gab es jedoch so gut wie nicht. Und das ist nach wie vor ein allgemeines Dilemma für alle von Aphasie betroffenen Menschen. Kürzlich ist mir ein Zitat von Friedrich Nietzsche in die Hände gefallen, dem ich aus heutiger Sicht und Erfahrung zustimmen kann: »Wer ein Wozu zu leben hat, der erträgt fast jedes Wie.«
2012 erschien in Zusammenarbeit mit Andreas Winnecken
»Aphasie - Wenn Sprache zerbricht – Die Betroffenheit der Mitbetroffenen«
im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein.
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Rezensionen lesen
Der Roman »Im Lande Gänseklein« ermöglicht einen Einblick in die speziellen Konflikte und Besonderheiten der Aphasie-Lebenssituation eines Paares. Erzählt wird aus der Sicht der mitbetroffenen Ehefrau, die sich in einen anderen Mann verliebt.
Der Roman ist noch gebraucht im Internet zu bekommen.
Erika Pullwitt, Jahrgang 1942
Während einer Lesung aus ihrem Roman »Im Lande Gänseklein« im Mai 2013, SG-Aphasie, Stadtallendorf