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Lebenspartner und Angehörige finden sich in einer völlig chaotisch veränderten Lebenssituation wieder. Sie sind einem Konglomerat völlig unbekannter, vielfältiger, schwerwiegender und existenzieller Probleme ausgesetzt, die aber bewältigt werden müssen und vielfach nur mit Mühen bewältigt werden können. Diese Belastungen bringen unweigerlich psychische und physische Auswirkungen mit sich. Ich habe diese Situation, in die der Mitbetroffene hineingerät, bisher das »Syndrom der Mit-Aphasie« genannt, übernehme jetzt den Begriff der Co-Aphasie, den die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe benutzt.
Die Symptome dieses Syndroms sind erstaunlich identisch mit denen eines Burn-out, einer reaktiven Depression und eines Posttraumatischen Belastungssyndroms. Führt man sich den Stellenwert der Sprache vor Augen, so ist zu erkennen, dass Aphasie in alle Lebensbereiche eindringt! Deshalb ist sie für Betroffene wie Mitbetroffene ein Trauma! Der bio-medizinische Ansatz sieht in seinen Behandlungspfaden dieses Trauma nur selten als therapierelevant an. Deshalb wundert es nicht, dass kaum effiziente und nachhaltige Hilfsstrategien/ -strukturen für die Bewältigung derartiger psychosozialer Probleme entwickelt worden sind.
Betroffene und Mitbetroffene haben in der Zeit der betreuten Rehabilitationsphase zumeist noch keine genaue Vorstellung von der zukünftigen Lebensproblematik. Sie haben allerdings eine diffuse Angst vor der Zukunft, sie werden in ein völlig fremdes Leben entlassen ohne, bzw. mit wenig, Rüstzeug für die Bewältigung sprachgestörter Beziehungsstrukturen. Die Wucht der Aphasie zeigt sich logischerweise erst so richtig im Laufe des realen Aphasie-Lebens.
Die Maxime unseres Gesundheitswesens ist die evidenzbasierte Medizin. Daraus erklärt sich z.B. die fehlende Abrechnungsfähigkeit der so dringend notwendigen und ggf. »therapeutischen« Gespräche des Hausarztes mit den Aphasie-Beteiligten. Also finden sie nicht statt oder werden auf ein Mini-Minimum reduziert. Ebenso sind im Katalog der ambulanten Maßnahmen nach der Reha-Phase in der Regel keine Therapien beim Psychologen und/oder Neuropsychologen vorgesehen. Nicht für Betroffene und schon mal gar nicht für Mitbetroffene. Entsprechende Gespräche müssen beantragt werden.
Da die Anzahl der fachkundigen Therapeuten zu gering ist, sind die Wartezeiten sehr lang. Somit lassen es viele Betroffene und wurschteln sich kräftezehrend durch den Alltag, zur Freude der Kassen, die daraus schließen, dass es keinen Bedarf gibt.
Es hat den Anschein, dass die unter den psychischen Belastungen leidenden und manchmal dadurch erkrankten mitbetroffenen Partner/Angehörigen der Kollateralschaden sind, der billigend in Kauf genommen wird. Sie sind offenbar der Gesellschaft und ihren Institutionen nicht so wichtig. Dass dieses Ausblenden nicht nur fatal, sondern für unsere Gesellschaft auch nicht zeitgemäß sein darf, liegt eigentlich auf der Hand. Angehörige haben zu funktionieren, nicht zu klagen: So meine Erkenntnis aus meiner langjährigen Erfahrung, die in den vielen Gesprächen, die ich mit anderen Mitbetroffenen und Betroffenen geführt habe, immer wieder bestätigt wurde. Dabei ist es so simpel:
Menschen mit Aphasie brauchen ihre Partner und Angehörigen - und zwar gesund und tatkräftig!
Diese Feststellung gilt natürlich nicht nur für die von Aphasie betroffenen Menschen. Schlaganfälle produzieren unterschiedliche lebensverändernde Behinderungen, für die Starthilfen wichtig und notwendig sind. Erfreulicherweise hat die Stiftung Deutsche-Schlaganfall-Hilfe vor einigen Jahren in Ostwestfalen-Lippe (OWL) das sogenannte Lotsen-Projekt gestartet. In diesem Projekt begleiten Lotsen (ausgebildete Fachkräfte) Patienten nach einem Schlaganfall, Patienten u.a. mit Aphasie sind ebenfalls darunter. Dieses Begleit-Angebot wird gern angenommen und ist den Betroffenen wie den Angehörigen in der ersten Zeit eine gute Stütze. Die Rückmeldungen sind sehr positiv, und es ist zu hoffen, dass andere Regionen, bzw. möglichst alle Bundesländer, zur Nachahmung motiviert werden. Vereinzelt gibt es Ansätze einiger Landkreise und Kliniken, Lotzen bzw. Schlaganfall-Begleitungen zu installieren. Die Finanzierung, das Schaffen von Stellen sowie die entsprechenden Fachkräfte sind allerdings ein erhebliches Problem. Ein wissenschaftlicher Nachweis über die Effektivität dieses Projektes wird sicher bald vorliegen. Um eine bundesweite Finanzierung zu erlangen, wird es noch dauern. Aber schön, dass die Stiftung dieses sinnvolle Projekt realisiert und vorantreibt!
www.stroke-owl.de
Es mangelt sehr oft an sozialer Kompetenz im Umgang mit von Aphasie betroffenen Menschen und deren Angehörigen, weil Kenntnisse über ein Leben mit Aphasie fehlen. Der Öffentlichkeit und den Medien mangelt es an diesbezüglichem Wissen.
Diesen Mangel kann hoffentlich mein Buch beheben: Es beschreibt u.a. sechs aphasiebelastete Lebenssituationen - und, was sehr wichtig ist: es soll den Angehörigen Mut machen, über ihre Belastungen offen zu reden und Hilfen einzufordern sowohl im sozialen Umfeld wie auch beim medizinischen Fachpersonal. Prof. Dr. Andreas Winnecken (Neurolinguist und Aphasiologe), der u.a. den theoretischen Teil des Buches übernommen hat, geht ebenso auf diese Problematik und Misere ein.
Erika Pullwitt / Andreas Winnecken
Aphasie - Wenn Sprache zerbricht – Die Betroffenheit der Mitbetroffenen
Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein 2012;
ISBN 978-3-8248-0896-0;
als E-Book unter der ISBN 978-3-8248-0921-9 www.schulz-kirchner.de
Ich glaube, dass das Buch mitbetroffenen Angehörigen Argumentationshilfen bietet gegenüber verständnislosen und besserwisserischen Außenstehenden, die es zuhauf gibt.
Erika Pullwitt, Jahrgang 1942
Im April 2022
Mein Lebens-Hintergrund: Die Globale Aphasie meines Mannes bestimmt seit 1989 unser Leben. Mein Mann war damals 47 Jahre alt und ich 46. Mit unserem alten, dem »normalen« Leben hat unsere Aphasie-Welt kaum mehr etwas zu tun, wir haben unser Leben der Aphasie angepasst. Wie wir es bis jetzt geschafft haben? Schwer zu beantworten. Es war oft mehr als mühsam und manchmal auch sehr, sehr grenzwertig, vor allem in den ersten zehn Jahren. Nun blicken wir auf die vielen Jahre zurück und sind im Großen und Ganzen zufrieden mit dem was wir haben. Noch vor gut zwanzig Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, ein solch defizitäres Leben dauerhaft zu leben und es vor allem akzeptieren zu können. Hilfen, diesen Status zu erreichen, gab es jedoch so gut wie nicht. Und das ist nach wie vor ein allgemeines Dilemma für alle von Aphasie betroffenen Menschen. Kürzlich ist mir ein Zitat von Friedrich Nietzsche in die Hände gefallen, dem ich aus heutiger Sicht und Erfahrung zustimmen kann: »Wer ein Wozu zu leben hat, der erträgt fast jedes Wie.«
2012 erschien in Zusammenarbeit mit Andreas Winnecken
»Aphasie - Wenn Sprache zerbricht – Die Betroffenheit der Mitbetroffenen«
im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein.
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Rezensionen lesen
Der Roman »Im Lande Gänseklein« ermöglicht einen Einblick in die speziellen Konflikte und Besonderheiten der Aphasie-Lebenssituation eines Paares. Erzählt wird aus der Sicht der mitbetroffenen Ehefrau, die sich in einen anderen Mann verliebt.
Der Roman ist noch gebraucht im Internet zu bekommen.
Erika Pullwitt, Jahrgang 1942
Während einer Lesung aus ihrem Roman »Im Lande Gänseklein« im Mai 2013, SG-Aphasie, Stadtallendorf