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Aphasie katapultiert jedes Jahr Zehntausende Menschen in eine andere Lebensdimension. Der Altersmeridian derjenigen, die durch einen Schlaganfall von Aphasie betroffen worden sind, ist in den letzten fünfundzwanzig Jahren von Mitte Siebzig auf unter Fünfzig (!) gesunken. Mehr als 30 % aller Schlaganfälle (Inzidenz ca. 220 000) treten bereits im berufstätigen Alter auf, also vor dem 65./67. Lebensjahr (vgl. Huber, Poeck, Springer: Klinik und Rehabilitation der Aphasie, 2006).
Die Frage ist, ob sich dieser Trend fortsetzt - was zu befürchten ist. Die Höhe der Aphasie-Inzidenz (jährliche Aphasie-Fälle) wird auf mindestens ca. 70.000 geschätzt, genaue Zahlen gibt es nicht. Bei gut der Hälfte der Betroffenen, also bei mindestens 35.000, entwickelt sich eine chronische Aphasie in unterschiedlicher Ausprägung (siehe Kasten) und unterschiedlicher Lebenskonsequenz.
Die entsprechende Prävalenz (alle lebenden Menschen mit Aphasie) ist deshalb ebenso eine Schätzung. Es ist also nicht bekannt, wie viele Menschen tatsächlich mit einer Aphasie - trotz intensiver Therapien - nicht mehr über ihre alten Sprachfunktionen verfügen. Sind es Hunderttausend oder mehr? Ich vermute das Letztere. Da niemand die Aphasie-Betroffenen zählt und Aphasie ja nicht meldepflichtig und die Mortalitätsrate unbekannt ist, werden wir diesbezüglich weiterhin in Unwissenheit bleiben. Um das zahlenmäßige Ausmaß aber gedanklich realistisch zu erfassen, müssten auch die mitbetroffenen, pflegenden und betreuenden Partner und nahen Angehörigen hinzugezählt oder wenigstens mitgedacht werden. Eine zerbrochene Sprache behindert die verbale Verständigung, der Austausch zwischen Sender und Empfänger funktioniert nicht mehr richtig. Die Mit-Aphasie oder Co-Aphasie der Partner etc. tangiert die bisherigen Beziehungsstrukturen und die gemeinsame Lebensplanung. Das ist mehr als eine Herausforderung für die Be- wie für die Mitbetroffenen.
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass bereits deutliche Veränderungen in den Sozialverhältnissen zu verzeichnen sind: Die Anzahl der Single-Haushalte ist stark angestiegen, sodass zu befürchten ist, dass etliche Schlaganfall-Betroffene keine pflegenden Partner haben und auf fremde Hilfe angewiesen sind bzw. sein werden. Die vorherrschende allgemeine Unwissenheit über die Lebenssituation Aphasie, sowie auch das diesbezügliche Desinteresse der Fachwelt und der Gesellschaft, wird noch negativere Auswirkungen haben, als es schon derzeit bereits der Fall ist, wenn sich die Sichtweise nicht endlich ändert.
Aphasie-Angehörige berichten nach wie vor, dass sie wenig oder gar keine fachliche Unterstützung bei der Bewältigung der von Aphasie beherrschten Lebenssituation erhalten. Noch schlimmer ist die Situation bei alleinstehenden Betroffenen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, da sie ohne Partner sind, die die anfallenden täglichen Lebensprobleme regeln können. Die prekäre Lebenssituation bedarf unbedingt einer verstärkten Aufmerksamkeit, als es derzeit der Fall ist.
Im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung möchte ich darüber hinaus auf die vermutlich nicht selten anzutreffende missliche Lage von Aphasikern in Altenheimen hinweisen:
In den letzten vier Jahren haben mich gelegentlich sowohl Angehörige als auch Pflegepersonal, das in Altenheimen oder Neurologischen Abteilungen arbeitet, auf prekäre Situationen aufmerksam gemacht. Angehörige beschrieben die Situationen ihrer aphasischen Ehepartner und/oder Elternteile, die in einem Pflegeheim untergebracht werden mussten, als äußerst verstörend, weil das Pflegepersonal nicht nur keine Zeit für die zeitaufwendigen und komplizierten Kommunikationen aufbringen konnte oder wollte, sondern auch, weil das Pflegepersonal über Aphasie wenig Kenntnisse hat. Der Begriff Aphasie war dem Pflegepersonal fälschlicherweise nur im Rahmen einer Demenzerkrankung bekannt. Nur ist Aphasie keine dementielle Erkrankung: Aphasie ist der plötzliche Verlust der Sprache. Die allmählichen Sprachminderungen durch den Abbau der kognitiven Fähigkeiten, wie es bei einer Demenz vorkommt, ist eine völlig andere Diagnose. Die aphasischen Heimbewohner wollten nicht als demente Menschen gelten, was sie ja auch nicht waren/sind. Dies führte zu Konflikten mit dem Pflegepersonal und auch mit Mitbewohnern, die die stammelnde Sprache nachäfften und sich lustig machten. Ein betroffener Aphasiker reagierte schließlich aggressiv und demolierte sein Zimmer, eine betroffene Frau weinte nur noch und sollte in die Psychiatrie verlegt werden. Angehörige nahmen sie bis zu einer anderen Lösung aus diesem Heim.
Es gibt Pflegepersonal, das sich Gedanken über die besondere Situation von Menschen mit mittleren und schweren Aphasien in ihrer Obhut macht und den Unterschied zwischen Aphasie und Demenz kennt. Realität ist leider, dass die Hilflosigkeit des Personals im Umgang mit verzweifelten Aphasie-Betroffenen durch den systembedingten Zeitmangel erheblich potenziert wird. Zahlenmäßig sind Menschen mit Aphasie in Altenheimen in der Minderheit, dennoch dürfen sie nicht falsch behandelt werden. Zur Beseitigung dieser Misere müssten und könnten vor allem die Medien einen wertvollen Beitrag leisten. Tun sie aber leider nicht, interessiert sie scheinbar nicht.
Inzwischen werden häufig nicht mehr die Leitsymptome für die Diagnose Aphasie herangezogen, weil die Klassifikation in Amnestische Aphasie, Wernicke-Aphasie, Broca-Aphasie, Globale Aphasie zu unscharf ist und auch eine Momentaufnahme sein kann. Die Art der Sprachstörungen verändern sich manchmal mit der Zeit. Die Leitsymptome dienen sicherlich in den ersten Monaten ggf. für Therapieansätze und neurologische Befund-Beschreibungen. Es ist dennoch nicht verkehrt, die Klassifikation zu kennen. In meinem/unserem Sachbuch Buch »Aphasie – Wenn Sprache zerbricht: Die Betroffenheit der Mitbetroffenen« wird die Klassifizierung erwähnt. Das Buch beschäftigt sich aber schwerpunktmäßig mit den mitbetroffenen Angehörigen und deren Probleme durch die »Mit-Aphasie«, inzwischen auch Co-Aphasie genannt. Mögliche Begleitsymptome werden genannt. Diese sind auch in entsprechender Fachliteratur, in Ratgebern zur Aphasie sowie in qualifizierten Internet-Beiträgen gut dargestellt.
Erika Pullwitt, Jahrgang 1942
Im April 2022
Mein Lebens-Hintergrund: Die Globale Aphasie meines Mannes bestimmt seit 1989 unser Leben. Mein Mann war damals 47 Jahre alt und ich 46. Mit unserem alten, dem »normalen« Leben hat unsere Aphasie-Welt kaum mehr etwas zu tun, wir haben unser Leben der Aphasie angepasst. Wie wir es bis jetzt geschafft haben? Schwer zu beantworten. Es war oft mehr als mühsam und manchmal auch sehr, sehr grenzwertig, vor allem in den ersten zehn Jahren. Nun blicken wir auf die vielen Jahre zurück und sind im Großen und Ganzen zufrieden mit dem was wir haben. Noch vor gut zwanzig Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, ein solch defizitäres Leben dauerhaft zu leben und es vor allem akzeptieren zu können. Hilfen, diesen Status zu erreichen, gab es jedoch so gut wie nicht. Und das ist nach wie vor ein allgemeines Dilemma für alle von Aphasie betroffenen Menschen. Kürzlich ist mir ein Zitat von Friedrich Nietzsche in die Hände gefallen, dem ich aus heutiger Sicht und Erfahrung zustimmen kann: »Wer ein Wozu zu leben hat, der erträgt fast jedes Wie.«
2012 erschien in Zusammenarbeit mit Andreas Winnecken
»Aphasie - Wenn Sprache zerbricht – Die Betroffenheit der Mitbetroffenen«
im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein.
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Rezensionen lesen
Der Roman »Im Lande Gänseklein« ermöglicht einen Einblick in die speziellen Konflikte und Besonderheiten der Aphasie-Lebenssituation eines Paares. Erzählt wird aus der Sicht der mitbetroffenen Ehefrau, die sich in einen anderen Mann verliebt.
Der Roman ist noch gebraucht im Internet zu bekommen.
Erika Pullwitt, Jahrgang 1942
Während einer Lesung aus ihrem Roman »Im Lande Gänseklein« im Mai 2013, SG-Aphasie, Stadtallendorf