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Nun sind es dreiunddreißig Jahre, seit die globale Aphasie meines Mannes unser Leben und damit auch mein Leben bestimmt. Ein Leben, dessen Ausgestaltung von den Fähigkeiten und Bedürfnissen meines Mannes festgelegt wird. Aphasie durch-dringt nach wie vor alle Fassetten unseres Lebens. Aphasie ist enorm ansteckend, denn sie bindet mich im Umgang mit ihm permanent in seine Sprachdefizite ein. Seine kaputte verbale Kommunikationsfähigkeit ist somit zwangsläufig auch die meine, wir müssen ja irgendwie miteinander verbal umgehen und verstehen uns auch so manches Mal nicht. Die Interaktion von Empfänger und Sender ist schwer gestört. Meine Co-Aphasie gehört inzwischen zu mir, ich rege mich längst nicht mehr so darüber auf wie noch vor fünfzehn Jahren. Jedoch ist der Schmerz nach wie vor da, wenn ich meinen Mann oft so hilflos, verzweifelt und erfolglos nach Worten ringen sehe.
Der 17. März 1989 ist in meinem Kopf und in meiner Seele tief eingebrannt. Die Erinnerungen werde ich nicht los, sie liegen zwar im Untergrund, tauchen aber gelegentlich auf, manchmal ohne erkennbaren Anlass. Der diesjährige dreiund-dreißigste Jahrestag dämpft meine Stimmung. Positive Perspektiven, die trotz allem immer irgendwie da waren, sind inzwischen fast zur Gänze verschwunden. Das hat sicherlich auch mit dem Älterwerden zu tun: Ich nehme manchmal einen Abbau mentaler Fähigkeiten bei meinem Mann wahr, seine Sprachreste sind geschrumpft. Ich bin mit fast Achtzig auch nicht mehr die Frischeste. Und dann der fürchterliche Krieg in der Ukraine und die daraus resultierenden sicherheitspolitischen Konsequenzen machen geglaubte Wahrheiten zunichte. Auch die Jahre der Pandemie wirken sich bei uns beiden aus, eine Zurückgezogenheit hat sich etabliert.
Zu viele Erlebnisse rund um die Aphasie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in meinem Gedächtnis angesammelt. Es sind einige negative Erlebnisse, vor allem in Situationen im Umgang mit anderen Menschen und deren Reaktion auf meinen Mann, aber auch Situationen und Gegebenheiten, die nur uns beide betreffen. Unser vorheriges Leben wurde damals völlig auf den Kopf gestellt, es lief zeitweise aus dem Ruder. Allen Be- und Mitbetroffenen wird das nicht fremd sein. Das auf den Kopf gestellte Leben ist nach so vielen Jahren unsere spezielle Normalität geworden. Wir haben es geschafft, dieses besondere Leben zu leben und zu gestalten. Was aber nicht heißt, dass diese gewachsene und hart erarbeitete Normalität ein begrüßenswertes Leben ist. Wir hätten gern ein anderes Leben geführt. Aber dennoch ist eine gewisse Zufriedenheit in unserem Sein vorhanden.
Damals traf uns der Schlaganfall in einer Ehekrise, Trennung war nicht
ausgeschlossen. Der Schlaganfall präsentierte mir einen „neuen“ Mann.
Ihn so unglaublich „demoliert“, so verändert anzunehmen, zu akzeptieren
und dennoch den alten in ihm zu sehen, war eine unglaubliche Herausforderung
und Kraftanstrengung. Das gilt natürlich für uns beide. Ich musste lernen,
unsere Beziehung anders wahrzunehmen und zu bewerten, und ich musste und
wollte dieses neue Leben aktiv gestalten. Die Tatsache hinzunehmen, dass
mein Mann für immer im Mittelpunkt stehen wird, war für mich ein langer
und mühevoller Lernprozess, den ich vermutlich nur durchlaufen konnte,
weil wir keine Kinder haben. Diese grauenvollen Jahre möchte ich aus meinem
Gedächtnis löschen, was aber schlecht für die Bewältigung der Gegenwart
wäre. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das Leben rückwärts verstanden
werden muss, um es vorwärts zu leben. Ich ergänze: Die Zukunft beginnt
in der Gegenwart.
Damals machte uns die Plötzlichkeit des Schlaganfalls - und die Folge einer irreversiblen globalen Aphasie - völlig fassungslos. Die Ungeheuerlichkeit des ausgeprägten Sprachverlustes war nicht begreifbar und wuchs sich in den ersten Jahren zum Drama aus. Für meinen Mann war die Situation existenziell, für mich im Grunde auch, aber anders.
Trotz der permanenten Anforderungen, die mein Mann samt Aphasie seit dreiund-dreißig Jahren an mich stellt, hat er großen Anteil an der Bewältigung unseres gemeinsamen Lebens. Dass überhaupt ein so intelligenter, belesener und eloquenter Mann sich mit der zerstückelten Sprache arrangieren können würde, hätte ich nie gedacht. Auch dass er meine leider notwendigerweise erforderliche „Besserwisserei“ und Dominanz akzeptiert, ist beruhigend. Ich staune immer wieder, welche Zufriedenheit er oft ausstrahlt. Das ist nicht durchgehend, aber noch überwiegend.
Eine der Gründe für seine relative Zufriedenheit war und ist sicherlich, dass er mich als die unveränderte Partnerin hatte und hat, im Grunde gesund und weitgehend funktionsfähig und vor allem zuverlässig. Ich war und bin für ihn da. Selbstverständ-lich. Für die meisten Außenstehenden scheint damit alles gut zu sein, die Problematik ist für sie gemildert oder gar gelöst, die Ehefrau macht das schon, dazu ist sie ja da. So einfach ist das manchmal für Außenstehende.
Der Verlust der automatisierten Sprache hat meinen Mann in seiner Identität zutiefst getroffen. Er ist durch den Sprachverlust in sich gefangen. Das hat zwangsläufig Auswirkungen auf seine Psyche, wie auch auf seine Wahrnehmung der Mitmenschen. Eine zerstückelte Sprache ruft bei etlichen Mitmenschen Scheu, Angst und Ablehnung hervor, was mein Mann natürlich spürt. Wenn wir „Sprachgesunden“ uns vorzustellen versuchen, dass eine globale Aphasie Input und Output reduziert oder gar unmöglich macht, dann bekommen wir vielleicht eine leise Ahnung, mit welch ungeheuren Beschränkungen der betroffene Mensch lebt. Er ist ausgegrenzt. Sprache ist nun mal das Fundament und damit die Voraussetzung für die gesamte Entwicklung unserer menschlichen, gesellschaftlichen Existenz.
Ärzte, die ich damals verzweifelt nach einer Prognose fragte, auch nach realen Erfolgen der logopädischen Therapien, hatten immer nur ganz wage, ganz allgemeine Voraussagen parat, oft mit dem Hinweis, dass ich ja eine starke Frau sei, auf die mein Mann bauen könne, ich schaffe das alles schon. Das hat mich immer irritiert und oft auch wütend gemacht, da meine jeweilige eigene psychische und physische Konstellation grundsätzlich ignoriert wurde, zumeist von männlichen Ärzten übrigens. Das Komische ist, dass sogenannte starke Frauen wenig Hilfe angeboten bekommen, während die von Geburt an doch so starken Männer viel mehr Hilfe von Freunden, Nachbarn, Kollegen etc. in ähnlichen Lebenssituationen erhalten. Frauen hätten ein „Pflege-Gen“, meinte mal ein Atzt zu mir, ernsthaft. Heute hätte ich ihn ausgelacht und für blöd erklärt. Meine Erfahrung ist, dass realistische Vorhersagen bei Aphasie kaum machbar sind. Das Ausmaß der Verzweiflung ist anfänglich unsäglich, vor allem, wenn Aphasie mit Wucht nach der Reha auf den Alltag trifft und die Auswirkungen der Aphasie auf die Lebensgestaltung die eigene Vorstellungskraft übersteigen.
Nach dem mir irgendwann klar wurde, dass es hauptsächlich auf die Gegenwart ankommt, ist es mir gelungen, meine Zukunftsangst in den Griff zu bekommen. So versuche ich unser Leben nach der Devise: Die Zukunft ist unsere Gegenwart bzw. die Gegenwart ist unsere Zukunft! zu gestalten. Klingt gut, ist aber nicht immer umzusetzen. Das schon erwähnte Schrumpfen der Sprachreste etc. sehe ich. Ich bin zu einer ängstlichen Realistin geworden. Die Voraussetzung unseres gemeinsamen Lebens ist meine Gesundheit, nur so kann ich die zukünftigen Beschwernisse bewältigen. Ich muss gesund und fit bleiben, darf nicht schlapp machen, Mein Alter drängt sich verstärkt in mein Denken.
Ich hätte für mich gern mal wieder - nach vier Jahren - eine ein/zwei wöchige Auszeit. Das geht leider nicht mehr, ich wage es derzeit nicht. Eine Bekannte meinte, ich könne meinen Mann für die Zeit in ein Heim geben. Allein schon die Formulierung zeigt, wie undurchdacht und unsensibel ein solcher Ratschlag ist. Einerseits - und vor allem - ist mein Mann kein Gegenstand, über den ich verfügen kann. Andererseits wäre mein Mann in einem Altenheim völlig fehl am Platz, da das Pflegepersonal weder die Zeit und Geduld hätte, aus den winzigen Sprachresten einen Sinn zu entnehmen. Das gilt auch für die Mitbewohner. Gestörtes Sprachverständnis wird in die Schublade debil oder dement einsortiert. Den psychischen Stress einer solchen brutalen Isolation könnte ich meinen Mann nicht zumuten.
Durch Gespräche mit anderen Mitbetroffenen, die ihren/ihre aphasischen Partner bzw. Partnerin noch nicht so lange kennen und somit nur eine relativ kurze gemeinsame Vergangenheit haben, ist mir klar geworden, dass es eine der Vorausset-zungen für die Meisterung unseres Aphasie-Leben war und ist, dass wir uns seit 1958 kennen und seit 1965 verheiratet sind. Das erleichtert es mir, seine Gedanken zu denken, mich in ihn hineinzuversetzen und seine Assoziationen zu erahnen, sodass eine emotionale Grund- Kommunikation immer vorhanden war und ist. Natürlich kommt noch eine Portion Liebe hinzu, die hilft, die vielen entstandenen Defizite in meinem eigenen Leben nicht zu ernst zu nehmen. Rücksichtnahme nervt schon mal, ist aber unumgänglich, um eine Ebenbürtigkeit aufrechtzuerhalten.
Nur so kann ich auch in dem sehr, sehr klein gewordenen Lebensrahmen leben und die überwiegende Häuslichkeit und Zurückgezogenheit nicht nur aushalten, sondern ihr auch etwas Positives abgewinnen: Ruhe und stressfreie Konzentration auf unser gemeinsames Leben. Das heißt: Wenig Aufregung durch Reduzierung von gemeinsamen kommunikativen Aktivitäten, die meinen Mann immer mehr überfordern.
Ich hoffe sehr, dass ich gesund bleibe. Und dass mein Mann vor mir stirbt, allein kann er nicht leben, in einem Heim schon mal gar nicht. Gedanken an die Finalität werden häufiger, was aber nichts mit Depression zu tun hat. Ich bin froh, es bis hierher geschafft zu haben! Kein Sektkorken knallt, aber ein Grund, mir selbst auf die Schulter zu klopfen!
Im April 2022
Erika Pullwitt, Jahrgang 1942
Im April 2022
Mein Lebens-Hintergrund: Die Globale Aphasie meines Mannes bestimmt seit 1989 unser Leben. Mein Mann war damals 47 Jahre alt und ich 46. Mit unserem alten, dem »normalen« Leben hat unsere Aphasie-Welt kaum mehr etwas zu tun, wir haben unser Leben der Aphasie angepasst. Wie wir es bis jetzt geschafft haben? Schwer zu beantworten. Es war oft mehr als mühsam und manchmal auch sehr, sehr grenzwertig, vor allem in den ersten zehn Jahren. Nun blicken wir auf die vielen Jahre zurück und sind im Großen und Ganzen zufrieden mit dem was wir haben. Noch vor gut zwanzig Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, ein solch defizitäres Leben dauerhaft zu leben und es vor allem akzeptieren zu können. Hilfen, diesen Status zu erreichen, gab es jedoch so gut wie nicht. Und das ist nach wie vor ein allgemeines Dilemma für alle von Aphasie betroffenen Menschen. Kürzlich ist mir ein Zitat von Friedrich Nietzsche in die Hände gefallen, dem ich aus heutiger Sicht und Erfahrung zustimmen kann: »Wer ein Wozu zu leben hat, der erträgt fast jedes Wie.«
2012 erschien in Zusammenarbeit mit Andreas Winnecken
»Aphasie - Wenn Sprache zerbricht – Die Betroffenheit der Mitbetroffenen«
im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein.
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Rezensionen lesen
Der Roman »Im Lande Gänseklein« ermöglicht einen Einblick in die speziellen Konflikte und Besonderheiten der Aphasie-Lebenssituation eines Paares. Erzählt wird aus der Sicht der mitbetroffenen Ehefrau, die sich in einen anderen Mann verliebt.
Der Roman ist noch gebraucht im Internet zu bekommen.
Erika Pullwitt, Jahrgang 1942
Während einer Lesung aus ihrem Roman »Im Lande Gänseklein« im Mai 2013, SG-Aphasie, Stadtallendorf