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Liebe Leserinnen und Leser!
Schicksalsschläge und Lebensumbrüche sind nichts Außergewöhnliches. Sie können jeden treffen, in jeder Lebenssituation, sie machen vor Niemanden halt. Das Ertragen und Meistern einer erzwungenen neuen Lebensgestaltung ist immer eine individuelle Angelegenheit, jeder muss selbst gestalten, vielleicht gelegentlich mit Hilfen. Hilfreich kann schon das Wissen sein, dass andere Menschen in eine ähnliche Situation gekommen sind. Und genauso wichtig ist es, dass Außenstehende über Ursachen eines Schicksalsschlages und die daraus folgenden Tragödien ein wenig Hintergrundwissen gewinnen können/sollten. Dies ist m. M. nach Voraussetzung für einen empathischen Umgang mit betroffenen Menschen.
Das Schicksal Aphasie hat diesbezüglich leider einen erheblichen Nachholbedarf, zumal Aphasie eine sehr spezielle und gravierende Beeinträchtigung ist. Sie bedarf der besonderen Aufmerksamkeit. Die vielfältigen Lebenskonsequenzen dieser Behinderung sind für Betroffene wie für deren Partner und Familienmitglieder einschneidend. Diese Schicksale befinden sich kaum bis gar nicht im Bereich eines gesellschaftlichen Interesses. Viele pflegende / betreuende Angehörigen müssen ihr eigenes aber auch das gemeinsame Leben völlig neugestalten - und das oft unter schwierigen Umständen. Auf sie möchte ich den Blick richten, denn sie sind der Kollateralschaden in Sachen Aphasie. Ich benutze diesen Begriff bewusst. Kollateralschäden werden in der Regel billigend in Kauf genommen. Es gibt wohltuende Ausnahmen, aber es sind eben Ausnahmen.
Wir alle müssen uns immer wieder bewusst machen, dass Sprache die wichtigste menschliche Fähigkeit ist und somit die wesentliche Form für unser soziales Handeln darstellt.
Ist die automatisierte Sprache, also die »normale« Sprach- und Kommunikationsfähigkeit, beeinträchtigt bzw. gar zerstört, verliert der betroffene Mensch einen erheblichen Teil seines Selbstverständnisses und seines Selbstbewusstseins. Dass dies Auswirkungen vor allem auf Partner und Familienangehörige hat, liegt auf der Hand. Somit sind Partner und Angehörige ebenfalls von Aphasie mitbetroffen. Sie erleben Hilflosigkeit und Überforderung durch permanente Rücksichtnahme, sie sind verzweifelt über den Verlust des »normalen« Kommunikationspartners und erleben schmerzhaft die Verzweiflung des geliebten erkrankten Menschen. Ein lähmendes Gefühl des Alleingelassen-Seins breitet sich aus, auch finanzielle Probleme sind sehr belastend. Das ist Stress pur. (Wissenschaftlich wird der Stress am Arbeitsplatz erforscht, aber nicht der Stress durch Krankheit.)
Die Aphasie-Tragödien spielen sich im Verborgenen ab, die Öffentlichkeit zeigt wenig Interesse an diesen Schicksalen, ihr fehlt das Wissen, auch ein rudimentäres Wissen über das Wunderwerk Sprache. Bleibt dies so, werden sich auf gesellschaftlich relevanter Ebene auch zukünftig weder Empathie noch Verständnis für die Belastungen, Sorgen und Nöte der von Aphasie betroffenen Menschen entwickeln können.
Auf diese Problematik möchte ich aufmerksam machen und vor allem Mitbetroffenen Mut machen, über ihre schwierige Aphasie-Lebenssituation mit unwissenden Außenstehenden zu sprechen. Ich weiß aus Erfahrung, wie schwer es ist, die eigene emotionale Betroffenheit und den belastenden Alltag des Aphasie-Lebens so zu schildern, dass Außenstehende wenigstens annähernd eine Vorstellung von den Schwierigkeiten und den Lebens-Defiziten bekommen.
Erika Pullwitt, Jahrgang 1942
Im April 2022
Mein Lebens-Hintergrund: Die Globale Aphasie meines Mannes bestimmt seit 1989 unser Leben. Mein Mann war damals 47 Jahre alt und ich 46. Mit unserem alten, dem »normalen« Leben hat unsere Aphasie-Welt kaum mehr etwas zu tun, wir haben unser Leben der Aphasie angepasst. Wie wir es bis jetzt geschafft haben? Schwer zu beantworten. Es war oft mehr als mühsam und manchmal auch sehr, sehr grenzwertig, vor allem in den ersten zehn Jahren. Nun blicken wir auf die vielen Jahre zurück und sind im Großen und Ganzen zufrieden mit dem was wir haben. Noch vor gut zwanzig Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, ein solch defizitäres Leben dauerhaft zu leben und es vor allem akzeptieren zu können. Hilfen, diesen Status zu erreichen, gab es jedoch so gut wie nicht. Und das ist nach wie vor ein allgemeines Dilemma für alle von Aphasie betroffenen Menschen. Kürzlich ist mir ein Zitat von Friedrich Nietzsche in die Hände gefallen, dem ich aus heutiger Sicht und Erfahrung zustimmen kann: »Wer ein Wozu zu leben hat, der erträgt fast jedes Wie.«
2012 erschien in Zusammenarbeit mit Andreas Winnecken
»Aphasie - Wenn Sprache zerbricht – Die Betroffenheit der Mitbetroffenen«
im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein.
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Rezensionen lesen
Der Roman »Im Lande Gänseklein« ermöglicht einen Einblick in die speziellen Konflikte und Besonderheiten der Aphasie-Lebenssituation eines Paares. Erzählt wird aus der Sicht der mitbetroffenen Ehefrau, die sich in einen anderen Mann verliebt.
Der Roman ist noch gebraucht im Internet zu bekommen.
Erika Pullwitt, Jahrgang 1942
Während einer Lesung aus ihrem Roman »Im Lande Gänseklein« im Mai 2013, SG-Aphasie, Stadtallendorf